Feng Shui und die Lilienfüße

Im Pitt Rivers Museum in Oxford, von dem ich schon letzte Woche berichtete, fand ich noch ein spannendes, doch gleichwohl schockierendes Ausstellungsobjekt. In mehreren Schaukästen wurde die Tradition der sogenannten Lilienfüße dokumentiert. Diesen grausamen Brauch näher zu kennen ist wichtig, um so manche Zusammenhänge im Feng Shui besser verstehen zu können.

Lilienfüße sind kein schöner Anblick. Foto: © Hedwig Seipel
Lilienfüße sind kein schöner Anblick.
Foto: © Hedwig Seipel

Lilien- oder auch Lotusfüße sind Frauenfüße, die durch Abbinden absichtlich verstümmelt wurden, um einem zweifelhaften Schönheitsideal nachzukommen. Je schmaler, spitzer und kleiner der Fuß, desto attraktiver und begehrenswerte war die Frau im alten China. Die Qual der Mädchen begann meistens im Alter von fünf bis acht Jahren mit dem Abbinden der Füße durch die Mutter oder Großmutter. Dem folgten Monate und Jahre mit höllischen Schmerzen. Mit Ausnahme der großen Zehe wurden alle Zehen gebrochen und unter die Fußsohle gebogen. Der Fuß wurde anschließend so eng mit Bandagen umschlungen, dass er im Wachstum gehemmt und zum Klumpfuß verformt wurde. Am Ende der Prozedur konnten die Frauen kaum noch gehen.

Frauen mit Lilienfüßen haben spezielles Schuhwerk gebraucht. Foto: © Hedwig Seipel
Frauen mit Lilienfüßen haben spezielles Schuhwerk gebraucht.
Foto: © Hedwig Seipel

Ihren Anfang nahm die Tradition in einer künstlerischen Darbietung. Yao Niang, die Geliebte des letzten Kaisers der Tang-Dynastie (975) Li Houzhu bandagierte ihre Füße, um besser tanzen zu können. Der Kaiser baute ihr sogar eine spezielle, lotosblütenförmige Bühne (daher der Name) dafür.  Der Schönheit der Tänzerin eiferte die gehobene Schicht nach und ab der Song-Dynastie war es üblich, die Füße von Mädchen abzubinden.

Die Stimmung der damaligen Zeit hat diese grausame Praktik begünstigt. Während in der vorangegangenen Tang-Dynastie die Frau innerhalb der Ehe und der Familie geachtet wurde, schrieb die Song-Dynastie die Unterwerfung der Frau vor.

Die Verstümmelung der Füße schränkte die Bewegungsfreiheit der Frau so extrem, dass sie an den Haushalt gebunden blieb und auf den Mann angewiesen war, um das Haus verlassen zu können. Diese Umstände hoben den Mann zu Oberherrscher und zwängten die Frau zu Treue.

In der Song-Dynastie erlebte auch Feng Shui eine starke Entwicklung. Aus der Verbindung von Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus entstand ein neues, wissenschaftliches Weltbild, das auf der Beobachtung der Zusammenhänge in der Natur und im Leben ausgerichtet war. In dieser Zeit entstand die „Struktur-Schule“ des Feng Shui und die „Schicksalsberechnung nach den acht Zeichen“, die wir heute umgangssprachlich die „chinesische Astrologie“ nennen. Diesen wissenschaftlich geprägten Ansichten standen streng konservative Gesellschaftsregeln gegenüber. Dadurch werden bis heute diverse Regel und Empfehlungen im Feng Shui nicht korrekt interpretiert. Dies passiert immer dann, wenn es um die Rolle des Weiblichen bzw. der Frau ging. Berücksichtigt man dabei die damals übliche Oberherrschaft des Männlichen nicht, dann kann man sehr schnell das Weibliche als „das Schlechtere“ deuten.

Um Feng Shui richtig zu verstehen und zu interpretieren ist notwendig, die kulturellen und sozial-politischen Einflüsse der jeweiligen Epoche zu identifizieren und abzulegen. Nur dann lässt sich die alte, chinesische Lehre in der modernen, westlichen Welt anwenden.

Aber zurück zu den Lilienfüßen. Nach Gründung der Volksrepublik China 1949 wurde der Brauch unter Mao Zedong endgültig verboten, weil die Regierung die Gleichberechtigung der Frau einführte und Frauen als Arbeitskräfte benötigt wurden.

Trotz des Verbotes lebte die Tradition, vor allem in ländlichen Regionen, noch weiter. Und so schloss die letzte Fabrik, die Spezialschuhe für abgebundene Füße herstellte, erst im Jahr 1988.

Hier noch weitere, interessante Links zu dem Thema:

Eine Fotostrecke, die Frauen mit Lilienfüßen zeigt und die Tradition dokumentiert: http://www.spiegel.de/fotostrecke/frauen-mit-gebundenen-fuessen-fotoprojekt-von-jo-farrell-fotostrecke-117218-3.html

Artikel mit weiteren Hintergrundinformationen: http://www.oai.de/de/51-ostasienlexikon/fff/1283-fuessebinden.html

Ich verspreche, nächste Woche mich wieder einem erfreulicheren Thema zu widmen.

Mit nachdenklichen Grüßen

Hedwig Seipel
www.fengshui-classic.de

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Über Hedwig Seipel 112 Artikel
Hedwig Seipel wandelte 1998 ihr Leben um und machte ihr Hobby - die asiatische Lebensphilosophie - zum Beruf. Nach fundierten Ausbildungen im Feng Shui, Geomantie, Coaching und Training gründete sie eine eigene Praxis. Sie ist Sachbuchautorin, Dozentin, Seminarleiterin und Beraterin.

4 Kommentare

  1. Welche Frau könnte einen Mann daran hindern, gelungene frühere chinesischen Frauenfüße für die schönsten zu halten, die es jemals in einer Kultur gegeben hat?
    Füße, die am liebsten nur noch ruhten und selbst zum Stehen kaum mehr geeignet waren?

  2. Wem einmal die unsäglich schmale spitze Eleganz denkbar kurzer chinesischer Frauenfüße ins Herz gestochen hat, der bleibt verletzt sein Leben lang. – Ach gäbe es sie noch heute!

  3. Von „Verstümmelung“ kann innerhalb jener Kultur keine Rede sein. Es handelt sich um ein Bemühen um Schönheit – das 900 Jahre lang.
    Manche Resultate der Formung und Stilisierung machen sprachlos.
    Frauen, die vor Schönheit nicht mehr stehen, geschweige gehen können.

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