Baubotanik: Bauen mit Bäumen

Als Kind hatte ich einen Lieblingsbaum. Es war ein Goldregen, der direkt am Gartenzaun stand. Er war schon recht alt und sehr gut zum Klettern geeignet. Gern saß ich in seinen Zweigen und betrachtete die Welt von oben. Dass ich so gut hinauf kam auf die Äste, war einer Besonderheit geschuldet: Der Baumstamm war mit dem Gartenzaun so verwachsen, dass sich für mich die passende Kletterhilfe ergab.

Baubotanik zum Anfassen: Weidendom im IGA-Park Rostock im Jahr 2013
Baubotanik zum Anfassen: Weidendom im IGA-Park Rostock im Jahr 2013
(Foto: Marcus Sümnick)

Ganz zu Beginn ist wahrscheinlich der Zaun dem Baum eine Stütze gewesen. Dann irgendwann werden sie die Rollen getauscht haben: Der Baum übernahm die führende Rolle und umschloss den Zaun mit seinem wachsenden Holz. Schließlich sah es so aus, als ob der Zaun nur deshalb noch gerade stünde, weil der kräftige Baumstamm ihn hielt.

Holz verwächst mit Stahl

Diesen Mechanismus der Natur nutzt die Baubotanik. Sie verbindet mit ihren Konstruktionen lebendiges Holz mit herkömmlichen Bauteilen aus Stahl oder anderen Materialien. Das geschieht über einen Zeitraum von mehreren Jahren, in dem die Holzpflanzen immer mehr untereinander und mit den Bauteilen verwachsen. So entsteht im Laufe der Zeit eine tragende, fest verwachsene Konstruktion aus den Pflanzen und dem hinzugefügten Material. Häuser sind auf diese Weise noch nicht entstanden, wohl aber Brücken, Aussichtsplattformen oder Pavillons.

Symbiose aus Holz und Stahl: Entstehung eines lebendigen Bauwerks
Symbiose aus Holz und Stahl: Entstehung eines lebendigen Bauwerks
(Foto: Trains & Trails / Flickr)

Der Begriff der Baubotanik entstand an der Universität Stuttgart. Dort beschäftigt sich seit einigen Jahren ein interdisziplinäres Forscherteam mit dieser Art des Bauens. Bei der Baubotanik geht es darum, aus einzelnen Pflanzen und verschiedenen Bauteilen ein neues, gemeinsames, lebendiges Bauwerk entstehen zu lassen. Die Bäume dienen hier nicht als Beiwerk, sondern werden im Laufe der Zeit wichtigster Teil der Gesamtkonstruktion.

Bauwerke sind stabil

Die baubotanischen Objekte werden übriges so konzipiert, dass sie sofort stabil sind und benutzt werden können. Zunächst nämlich, wenn die Pflanzen noch jung sind, werden sie von den zugefügten Bauteilen gestützt. Man muss also nicht warten, bis die Bäume die nötige Stärke erreicht haben und alles stabil miteinander verwachsen ist. Allerdings bedeutet das noch lang nicht, dass von Anfang an sicher wäre, wie das Bauwerk einmal aussehen wird.

Das jahrelange Wachstum der baubotanischen Konstruktionen wird zwar hauptsächlich durch die jeweilige Entwicklung der beteiligten Pflanzen bestimmt. Aber auch der Mensch kann Einfluss auf die Gestaltung nehmen. Das Beispiel eines Pavillons in Überlingen am Bodensee zeigt dies eindrucksvoll. Der Pavillon besteht aus 140 Weidenpaaren, die mit Stahlklammern verbunden sind und einen Edelstahl-Dachring tragen. Weiden wachsen schnell. Aber ganz anders als von den Architekten geplant, blieb das Häuschen im unteren Bereich recht luftig: Kinder und andere Nutzer entfernten immer wieder die frischen Triebe der Weiden. Oben aber, wo kein Mensch etwas abzupfen konnte, wuchs dem Pavillon eine kräftige, grüne Weidenkrone.

Bäume passen sich an

Wie sich Bäume den Bedingungen ihrer Umgebung anpassen, ist auch am Meer zu sehen. Windflüchter werden die sehr schräg stehenden Bäume genannt. Sie haben ihr Wachstum dem vom Meer her wehenden Wind angepasst, um einen dauerhaften, stabilen Stand zu haben.

Windflüchter wie hier auf Hiddensee zeigen, wie anpassungsfähig Bäume sind
Windflüchter wie hier auf Hiddensee zeigen, wie anpassungsfähig Bäume sind
(Foto: Frank Schmidtke)

Kommen ihnen fremde, feste Teile in die Quere, wachsen Bäume einfach darum herum. Oder sie vereinnahmen das Fremde, indem sie es mit ihrem Holz über die Jahre überwallen. Baubotaniker nutzen diese Reaktion der Bäume, um ein in großen Teilen lebendiges Bauwerk zu schaffen. Das Konzept ist im Grunde alles andere als neu. Bereits seit dem späten Mittelalter sind so genannte „Tanzlinden“ bekannt, die als „kunstvoll geleitete Lindenbäume“ Mittelpunkt dörflicher Feste und Bräuche waren. Auch wenn Tanzlinden heute rar geworden sind, im süddeutschen sind sie in manchen Dörfern noch anzutreffen.

Tanzlinde in Tabarz, Thüringen
Tanzlinde in Tabarz, Thüringen (Foto: A. Penthesil / Flickr)

Das Verwachsen des Baumes mit den Streben des Gartenzauns habe ich als Kind bei meinem Lieblingsbaum als Kletterhilfe genutzt. Hätte ich damals schon etwas von Baubotanik geahnt, ich hätte dem Zaun und dem Baum vielleicht noch anderes hinzugefügt. Das alles wäre bis heute vielleicht zu einem lebendigen Gartenzaunhäuschen geworden. Ganz sicher ein Lieblingsort.

Quelle:

www.wiwo.de – Baubotanik: Pflanzen ersetzen Beton

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Über Astrid Albrecht-Sierleja 152 Artikel
Astrid Albrecht-Sierleja verfügt als langjährige Malerin und Lackiererin über ausgesprochen praxisorientiertes Wissen und kennt als Produkt-Designerin die Vielfalt gestalterischer Möglichkeiten im Wohn- und Arbeitsbereich. Astrid erreicht ihr unter a.albrecht@everyday-feng-shui.de

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